Großmütter

„Wir alle werden von Dingen beeinflusst, die der formalen
Ausbildung vorausgehen, die aus heiterem Himmel kommen,
aus unserem Alltag. Diese ausgeklammerten Einflüsse
nenne ich die Großmütter.“
Rebecca Solnit

Ich glaube, dass alles, was von unseren Müttern kommt,
eine Macht besitzt, auf die wir lernen müssen, zurückzugreifen.“

Elena Ferrante

Weibliches Erbe? Was genau ist das eigentlich? Sind es die Politikerinnen, Unternehmerinnen, Künstlerinnen, die wenigen Frauen, die es gegen alle patriarchalischen Widerstände geschafft haben, ganz nach oben zu gelangen, ihre Stimme zu erheben, Macht zu erhalten? Welche Perspektive steckt dahinter, wenn wir das denken?

Dass nur bedeutend ist, was direkt politisch, wirtschaftlich oder kulturell laut hervorgetreten und für alle sofort erkennbar ist? Zählt das Leise, das Stille, das Verborgene nicht?

Dann wäre das weibliche Erbe sehr überschaubar. Also sind es nicht vielmehr auch die vielen Geschichten aus dem Leben von Frauen, die nicht erzählt werden, weil sie vermeintlich unbedeutend, alltäglich, zu häuslich, nicht welthaltig genug sind? Um weiblichem Erbe nachzuspüren muss man genauer hinsehen, hinhören, denn bis heute ist weibliches Erbe meistens das, was sich hinter den Fassaden abspielt, oft nicht erzählt wird, das Private, das Alltägliche, die kleinen Rituale und vielen Randbemerkungen, die immer wiederkehrenden Kommentare, eher selten das Etikett, das auf einer Familiengeschichte klebt, denn das definiert sich viel zu oft noch über die Berufe der Männer oder?

Ich glaube Elena Ferrante und Rebecca Solnit meinen genau diese unerzählten Geschichten, die so beständig in unseren Ohren klingen, das wir sie als Erbe kaum wahrnehmen. Davon gibt es bei uns allen reichlich oder? Vielleicht könnte jede von uns den einen oder anderen Beitrag dazu leisten,  weiblichem Erbe mehr Gehör zu verschaffen. Wäre das nicht einen Versuch wert? Ich finde ja und   schreibe deshalb jetzt hier in lockerer Folge über meine Großmütter, also aus der Sicht meiner Großmütter, meinem Blick auf sie, ihrem Blick in die Welt, auf die Welt, äh, ach, einfach irgendwie über alles, was von ihnen in mir nachklingt – mit Bezug zu Literatur und ohne.

Anna und Martha, meine Großmütter, – sie hießen wirklich so, auch wenn es klingt, als hätte ich es mir ausgedacht – hatten nur eins gemeinsam: Ihre Enkelkinder. Sie waren so grundverschieden, wie man es sich nur denken kann. Nur um Euch ein Beispiel zu geben: Die eine, Anna, verlor einen Sohn, als er sechs Jahre alt war und hat ihr ganzes Leben darunter gelitten. Die andere empfing ihren 14jährigen Sohn mit den Worten: „Was willst du denn hier?“, nachdem er vierzig Kilometer von dem Ort seiner Lehrstelle mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte, um seine Eltern und seine Geschwister zu sehen.

Ich bin ein Ergebnis der Existenz dieser beiden Frauen, also ich und meine Geschwister. Das hinterlässt Spuren, das kann ich Euch sagen. Mal höre ich die eine Stimme, mal die andere, doch meistens ist es ein unentwirrbares Gemisch aus beiden. Es wäre schöner, wenn ich sie klar voneinander unterscheiden könnte, dann herrschte wenigstens Ordnung und Ruhe. Das ist natürlich utopisch, das ist mir schon klar, aber wo kämen wir hin, wenn wir nicht das Unmögliche versuchen würden. Also versuche ich es und lasse beide hier getrennt zu Wort kommen, zu was auch immer, das kann ich ihnen nicht vorschreiben. Sie äußern sich nämlich grundsätzlich ungefragt. Ich schwöre nur, ich halte mich bei alldem strikt an die Wahrheit.

Anna, die Mutter meiner Mutter, klein, rund, weich, still und nachdenklich. Sie stand meistens Pudding kochend in der Küche, saß Strümpfe strickend oder Rosetten häkelnd auf dem Sofa, buddelte in ihren jüngeren Jahre für ihr Leben gerne im Garten, nähte Kleider, als wäre sie von Geburt Schneiderin, löste später Kreuzworträtsel mit Lösungsbuch, konnte spontanen Besuchern gegenüber sehr unwirsch sein und hat uns nie erzählt, wie sie ihren Mann, meinen Großvater, kennengelernt hat. Überhaupt hat sie nicht gerne gesprochen, ist aber umso öfter in ein so herzhaftes Gelächter ausgebrochen, dass die Tränen kullerten und ihr ganzer Körper bebte. Wenn sie hier zu Wort kommt, heißt es:

Anna macht sich einen Kopf.

Martha, die Großmutter väterlicherseits, trug wagenradgroße Hüte, weiße Mäntel und Handschuhe, ging sehr aufrecht, war abweisend und brüsk. Sie war stolz auf ihre Beine, die sie immer mit denen von Marlene Dietrich verglich, servierte uns kalte Pfannkuchen mit Butter, auf ihrer Terrasse roch es nach Friedhof, sie hatte Chippendale Sessel im Wohnzimmer und in ihrer Küche fungierte ein mit einem orangefarbenen Stück Frottier umwickelter fester Schwamm als Türstopper. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals lachend gesehen zu haben. War sie glücklich? Unglücklich? Oder wirklich kaltherzig, wie wir immer dachten? Keine Ahnung. Ich kannte sie kaum, und ihr war es egal, was andere von ihr dachten. Sie hatte gegen die runde Oma keine Chance und wollte sie auch gar nicht. Spricht sie hier, heißt es:

Martha spielt sich auf.

 

 

 

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