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Late Bloomer

Mary Wesley ist in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in England eine der meistgelesenen AutorInnen. Ihr erster Roman erschien 1983, da war sie 71. Harriet Doerr bekam 1984 im Alter von 74 den National Book Award for First Work of Fiction für ihren Roman „Stones for Ibarra“. Hatten die beiden eine so lange Leitung, oder was war da los?

Ja, was war da eigentlich los auch bei Jean Rhys, die berühmt geworden ist durch ihren Roman „Wide Saragossa Sea“. Er erschien im Oktober 1966, da war sie 76. Und bei Laura Ingalls Wilder, die das erste der „Little House“-Bücher, die Grundlage der Fernsehserie „Unsere kleine Farm“ sind, 1932 im Alter von 65 Jahren veröffentlichte. Oder bei Anna Mary Robertson Moses, besser bekannt als Oma Moses, von der 2006 ein Bild für eine Million Euro verkauft wurde. Sie begann ihre Karriere als Malerin mit 78 Jahren. Und Ingrid Noll, die 56 war, als sie mit ihrem Erstling „Der Hahn ist tot“ auf Anhieb zu schriftstellerischem Ruhm gelangte.

Mary Wesley war zwei Mal verheiratet, zog drei Söhne groß, blieb nach dem Tod ihres zweiten Mannes völlig mittellos zurück und musste sich neu erfinden. Sie nahm eine Arbeit bei einer Wohltätigkeitsorganisation auf und konzentrierte sich in ihrer Freizeit vollständig auf die Schriftstellerei, in der sie mit zwei Kinderromanen schon erste Schritte gegangen war.

Auch Harriet Doerr widmete sich der eigenen beruflichen Entwicklung erst, nachdem ihre beiden Kinder erwachsen waren und ihr Mann an Leukämie verstorben war. Auf Anraten ihre Sohnes nahm sie ihr vor der Heirat abgebrochenes Studium wieder auf und erlangte mit 67 in Stanford einen Bachelor in European History. Während des Studiums begann sie literarisch mit solchem Erfolg zu schreiben, dass sie ein Stipendium erhielt.

Jean Rhys hatte zwei Kinder, drei Ehen, eine Alkoholkrankheit, ein paar Erzählungen, drei Romane hinter sich, als sie nach dreißig Jahren, in denen sie vollkommen vergessen war, mit dem Roman „Wide Saragossa-Sea“ literarischen Ruhm erlangte.

Laura Ingalls hatte lange Jahre ein hartes Leben als Farmerin und Mitarbeiterin bei der Eisenbahn gelebt bevor ihre Tochter, die Schriftstellerin Rose Wilder Lane, sie drängte, ihre Notizen aus Kinder- und Jugendtagen literarisch zu verarbeiten.

Grandma Moses verließ mit zwölf Jahren die Farm ihrer Eltern und arbeitete bis zu ihrer Hochzeit mit dem Farmer Thomas Salmon Moses am 9. November 1887 als Dienstmagd. Sie brachte zehn Kinder zur Welt, von denen fünf im Kindesalter starben und begann zu malen, nachdem ihr Mann am 15. Januar 1927 verstorben war und der jüngste Sohn mit seiner Frau die Farm übernommen hatte.

Ingrid Noll versorgte vor ihrer Schriftstellerkarriere ihre drei Kinder und den Haushalt, arbeitete in der Praxis ihres Ehemannes mit und betreute ihre Mutter, die 106 Jahre alt wurde. In der wenigen verbleibenden Zeit begann sie zu schreiben, doch ihr erster Roman entstand erst, als die Kinder das Haus verlassen hatten. Er wurde auf Anhieb ein großer Erfolg.

Und klar sind es nicht nur Frauen, die spät mit künstlerischen Arbeiten Erfolg haben: Frank Mc Court war 66, als er für sein Erstlingswerk „Die Asche meiner Mutter“ den Pulitzerpreis erhielt. Er arbeitete jedoch zuvor hauptberuflich als Englischlehrer und unterrichtete mehrere Jahre lang kreatives Schreiben an der renommierten Styuvesant High School in New York.

Raymond Chandler veröffentlichte seine erste Kurzgeschichte mit 45 und seinen ersten Roman im Alter von 51 nachdem er diverse berufliche Stationen im britischen Staatsdienst, als Lehrer und Journalist hinter sich hatte.

Sie alle sind ‚Late Bloomer’. ‚Late Bloomer’ werden im englischsprachigen Sprachraum Menschen genannt, deren Talente für andere später sichtbar werden als normalerweise üblich. Late Bloomer. Spätblüher. Klingt das nicht viel freundlicher als Spätzünder, wie Menschen, deren Begabungen aus verschiedenen Gründen mehr Zeit benötigen, um an die Oberfläche zu gelangen? Es gibt Männer und Frauen, doch sind es ausschließlich Frauen, die deshalb spät zu ihrer Bestimmung finden, weil sie sich zuvor ihren Familien, ihren Kindern gewidmet haben. Caroline Criado-Perez schreibt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“:
„Ein EU-Bericht über europäische Universitäten zeigt, dass Altersgrenzen für Forschungsstipendien Frauen diskriminieren: Frauen machen mit höherer Wahrscheinlichkeit berufliche Pausen, so dass ihr ‚chronologisches Alter höher ist als ihr akademisches Alter’.“

Vielleicht trifft das ja nicht nur auf das akademische, sondern auch auf das künstlerische Alter zu? Es sieht ganz so aus oder? So oder so, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mich freuen Geschichten von Frauen, die nie aufgeben, auch nach langen Familienpausen nicht. Ich sammle sie geradezu, denn ich finde, wir brauchen unbedingt mehr davon, weil wir Vorbilder brauchen dafür, dass es für Lebensläufe von Frauen und insbesondere von Müttern, die sich Jahre ihres Lebens vorwiegend mit Familienfürsorge beschäftigt haben, keine Regeln gibt. Keine.

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