In den Rachen gerammt

Es kratzt. Mein Gott, wie das kratzt. Bis auf den Grund der Knochen und der Seele. Das Buch ist wie ein Schafwollpullover auf feuchter Haut bei Minustemperaturen. Und wenn der Pullover nicht so einzigartig wäre, nie, nein, niemals hätte man ihn angezogen. Genauso ist es mit diesem Buch.

Es ist so unerträglich wie unwiderstehlich. Nicht das Kratzen. Die Worte, die Sätze, der Stil. Es liest sich atemlos, doch geschmeidig ist es nicht. Man stockt, stolpert und stößt sich an bizarr konstruierten Formulierungen, schrägen Sprachbildern und stürzt dann zwischen den Satzzeichen in das Bodenlose, das ganz und gar Erbarmungslose dieser Geschichte. Sie nimmt kurz vor Weihnachten ihren Anfang.

Wir sind im Bibelgürtel der Niederlande, wo streng gläubige Christen eine besondere Gemeinschaft pflegen. Jas, die 12 jährige Ich-Erzählerin, hat ein Kaninchen, das gemästet wird. Sie fürchtet, es könnte zu Weihnachten serviert werden und betet zu Gott, er möge statt des Kaninchens den älteren Bruder Matthies zu sich holen. Wenig später geht dieser zum Eislaufen, bricht ein und ertrinkt. Von da an zerbricht endgültig, was schon zuvor nicht heil war: Die Familie.

Die Eltern versinken in sich. Die Kinder, Jas, Obbe und Hanna, versuchen zu begreifen, was der Tod ist, klammern sich so verzweifelt aneinander wie sie grausam zueinander sind. Nichts wird in der Geschichte ausgespart. Obwohl? Geschichte klingt schon zu glatt, zu eingängig für alles das, was Marieke Lucas ihren LeserInnen an Unverdaulichem in den Rachen rammt.

Und nein, die Sprache versöhnt nicht. Eben gerade nicht. Es ist die klaffende Leere zwischen der Sprache und der Geschichte, der Schrei nach Liebe, der in diesem Hohlraum erstickt, in seiner kratzigen Stummheit die Haut von innen wund scheuert. Die vollständige Abwesenheit von Versöhnung mit einem übermenschlichen Schmerz.

Man muss der Fratze seiner eigenen Abgebrühtheit, seinem geilen Voyeurismus ins Gesicht sehen, denn ohne ihn ist dieser Text nicht zu haben. Nicht von Marieke Lucas Rijnefeld. Mit aufgerissenem Herzen und ohne Trost lässt sie uns zurück. Eine Leseempfehlung? Nein. Ein Leseerlebnis? Oh ja! Aber bei Minustemperaturen.

 

Marieke Lucas Rijneveld. Was man sät
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp
ISBN 978-3-518-47165-4

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