Nicht weitersagen!

Könnt ihr mal kurz die Tür zu machen? Ich will euch etwas verraten. Es ist sehr privat, und ich möchte nicht, dass die ganze Welt zuhört: Ich habe ein Geheimnis mit Elisabeth Strout.

Lucy Barton hat es mir anvertraut. In einer stillen Stunde, als wir ganz allein waren. Nur sie und ich hinter verschlossenen Buchdeckeln. Ok, Lucy weiß, sie kann mir vertrauen. Nicht nur, weil ich sie schon aus vorherigen Romanen kenne, nein, so ganz grundsätzlich.

Wir verstehen uns quasi ohne Worte, weshalb sie mir mitunter auch nur mit drei Pünktchen oder einem spontanen Ausruf wie ‚Oh, William’ zu verstehen gibt, was sie sagen will. Sie weiß, dass ich mit ihr mitfühle, wir Seite an Seite stehen in ihren Gedanken zu William, ihrem ersten Mann. Deshalb macht sie auch keine Umstände in der Art, wie sie erzählt. Sie beschönigt nichts, liefert keine blankpolierten Versionen ihrer Erfahrungen. Wir rätseln herum, warum er ihr zu Anfang ihrer Ehe diese Sicherheit vermittelt hat, die sie so gesucht hat und die in ihrer zweiten Ehe mit David vollkommen irrelevant war, warum sich Lucy Catherine, Williams Mutter, so nah fühlte, obwohl sie ihr Urlaube aufgezwungen hat, die ihr verhasst waren, wie und wo die Geschichte ihrer Kindheit sie vor sich hertreibt, wie ihre Töchter sie an das Leben binden und ihr Schreiben sie am Leben hält.

Manchmal gibt es Antworten, manchmal nicht. Alles dieses versucht Lucy mit mir auf eine so kluge Weise zu ergründen, dass ich gestärkt und gewärmt daraus hervorgehe. Denn Lucy und ich, wir machen uns nichts vor. Wir stehen gleichsam nackt voreinander und versuchen aufrichtig zu sein. So gut es eben geht.

Diese ganz besondere Form der Intimität bannt Elisabeth Strout zwischen zwei Buchdeckel, schickt sie in Buchläden und Bibliotheken, verschafft ihr einen öffentlichen Raum und uns LeserInnen eine Wertschätzung, die ihresgleichen nicht findet. Das ist das Geheimnis, das sich tausendfach teilen lässt und doch unteilbar ist. Lest doch mal. Ich bin sicher, Lucy wird euch das Geheimnis von Elisabeth Strout auch verraten.

Aber nicht weitersagen. Es ist ein solcher Schatz. Aber wenn ihr schon mal dabei seid, lest doch bitte gleich alle Bücher von Elisabeth Strout. Aber was sage ich, das macht ihr sowieso, wenn ihr sie erst einmal entdeckt habt.

 

Elisabeth Strout. Oh, William!
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Luchterhand
ISBN 978-3-630-87530-9

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