Irrsinnige Muster

Ruhig und luftig und warm und nett ist die Villa. Zugewandt, voller Verständnis und gutem Willen der Mann. Ach, es könnte so schön sein dort draußen auf dem Land, so schön und harmonisch. Wenn?

Ja, wenn die Protagonistin sich doch endlich fügen und aufhören wollte, sich ihrer Welt, ihren Gedanken, dem Schreiben zu ergeben. So viele gute Ratschläge von hoher und höchster ärztlicher Stelle, Ehemann und Bruder, und sie?

Sie beißt sich an einer Tapete fest. Also wirklich! Wie kann sie nur? Einer Tapete in blassem Gelb, abgerissen an einigen Stellen und voller Muster, Kurven, Linien, Punkte, Zacken, Wellen. Zum Verrücktwerden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nur dass das natürlich ganz und gar absurd ist und unverständlich für alle und jeden, aber eben trotzdem nicht aufzuhalten, weil ja die Fenster vergittert, das Schreiben verboten und die Ratschläge so furchtbar gut sind, so verschlagen warmherzig daherkommen.

Gut gemeint. So schrecklich gut gemeint. Und kein Mensch hört auf die Protagonistin, die ihre ganze Kraft in dem Bemühen der Anpassung lässt, sich windet und quält und doch den Menschen, ihrem Mann in die Seele schaut, alles durchschaut, auch die gutgemeinte Überheblichkeit, die sich gewaltsam, so gewaltsam Platz verschafft, ihre zarten Versuche zur Versöhnung niedertrampelt und dann hinter die Tapete kriecht und dort Wurzeln treibt, die alles unterwandern, die Frauen in die Knie und zum Kriechen zwingt.

Am Ende kriecht auch sie, die Protagonistin, die Charlotte Perkins Gilman in ihrer kleinen weltberühmten Erzählung über die irrsinnigen Muster der Tapete in den Wahnsinn treibt, und uns damit zuruft: Vorsicht!!! Vorsicht vor dem Gutgemeinten, dem klebrig Tätschelnden, dem sonnigen Gelb einer Tapete. Vorsicht!

Ein eindringlicher Appell an die Kraft der eigenen Stimme, der 1892 erstmalig erschienen ist und von seiner Aktualität erschreckend wenig eingebüßt hat. Erschreckend und wenig. Ich lege euch den Text mit seinen 32 Seiten mal auf den Nachttisch. Oder nein, besser neben den Frühstückskaffee, wenn es schon hell ist und man all die Streifen, Wellen, Punkte, Zacken und Linien besser sehen kann. Echt zum Verrücktwerden.

 

Charlotte Perkins Gilman. Die gelbe Tapete
Aus dem Amerikanischen von Gerlinde Kowitzke
Verlag Frauenoffensive
ISBN 3-88104-036-6

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