Ohne stählerne Buchdeckel
Was die Hersteller wohl mit diesen Buchdeckeln gemacht haben, dass sie dem Druck standhalten, der sich zwischen ihnen aufbaut?
Es muss etwas wie Stahl darin sein, denn er ist immens der Druck dieses Lebens, das Christine Koschmieder mit vielen, vielen Buchstaben und sich auftürmenden Worten zusammenhält. Ein Leben so voller unbändiger Tiefen, dass es immer wieder aus den schnell getakteten Sätzen herauszuplatzen, sich zu verflüssigen und in den Ritzen des dahinschießenden Alltags zu versickern droht.
Doch Koschmieder stemmt sich dagegen. Mit Sprachmacht und Wortgewalt klammert sie sich an Gegenständen fest, hinter denen sich ihre Kindheit verbirgt oder die Traurigkeit über den frühen Tod ihres Mannes Unterschlupf sucht. Bis an die Grenze zur Unkenntlichkeit beschreibt sie Wohnungen, medizinische Gerätschaften und Spielzeug und findet doch nirgends den Halt, den ihre alkoholumnebelten Eltern ihr verwehrt haben und den sie so dringend bräuchte, um ihre drei Kinder alleine durchs Leben zu manövrieren.
Bis 17 Uhr. Länger allerdings sind die damit einhergehenden gefühligen Turbulenzen nicht auszutarieren. Unter der Woche 17 Uhr, am Wochenende etwas früher. Dann trinkt sie ein Glas Wein und noch eins, dann noch ein kleines und ein letztes. Dann endlich, endlich beruhigen sich die ängstlichen Geister, die sie tagsüber vor sich hertreiben und ihr mit Kontrollverlust drohen bis Koschmieder die Reißleine zieht und in eine Entzugsklinik geht.
Ab dann geht es ums Aufhören, Aus- und Stillhalten, um die Hingabe an ein Leben ohne stählerne Buchdeckel. Ein zutiefst aufrichtiges, intensives, mitreißendes, inspirierendes, erschütterndes und großes Leseerlebnis.
Christine Koschmieder, Dry
Kanon Verlag
ISBN 978-3-98568-042-9
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