Wahr oder nicht-wahr?

Kennt ihr das? Diese kribbelige Welle der Aufregung, wenn ihr die ersten Seiten eines Buches lest, der Herzschlag ein paar Takte zulegt, und alles in euch auf Aufnahme schaltet? Was für ein Setting. Welche Möglichkeiten. Eure Phantasie schiesst vorab schon mal Leuchtpfeile in den Himmel. Die Erwartungen sind kurz davor zu bersten.

Das muss fast zwangsläufig schief gehen, denn die Autorin und ich, wir kommen aus unterschiedlichen Welten, haben vollkommen andere Vorstellungen und Bilder im Kopf. Klar. Aber was wäre die Literatur, wenn nicht genau das ihre Chance ist?

Fügt die Autorin Worte, Sätze, Figuren und Begegnungen so aneinander, dass ich ihre Welt von innen zu sehen bekomme und meine für die Zeit des Lesens in den Schatten tritt, dann, ja dann tritt genau das ein, wovon Delphine de Vigan in diesem Roman erzählt: Das eine Leben löst sich im anderen auf, die Perspektiven verschwimmen, die Frage der Perspektive überhaupt gerät ins Rutschen. Was ist Wahrheit, was Einbildung? Wo fängt Einflussnahme an, hört die freie Entscheidung auf?

Vigan reißt die Türen ihres Universums so unvermittelt auf, dass es kein Entrinnen gibt: „L. trat in mein Leben und löste darin langsam, sicher und heimtückisch eine tiefgreifende Erschütterung aus.“ Das Ergebnis steht fest, ist nur ein wenig von Geheimnis umwittert. Der Autorin geht es um den Weg dorthin, die kleinen Schritte, leisen Töne und feinen Mechanismen, den unmerklichen Stimmungswechsel, als könnte sie selbst nicht fassen, wie es so weit hat kommen können. Sie sucht in ihrer Geschichte nach dem einen Punkt, dem Ereignis, dem Moment, an dem eine Abzweigung, die Rückbesinnung auf den eigenen Standort möglich gewesen wäre.

Schritt für Schritt geht sie die Strecke zurück, verweilt bei ihrer Familie, den Freunden, zeichnet ihren Lebensweg nach und kreist um die Begegnungen mit L., ihre Hilfsbereitschaft, ihre Fürsorge, die Unterstützung, die stetig fortschreitende Zersetzung. Dabei gerät die Ich-Erzählerin in einen Strudel von Zweifeln, kann nicht aufhören, immer mehr und noch mehr Beweise für ihr Ausgeliefertsein an L. zu liefern. Sie dreht sich zunehmend so intensiv um sich selbst, dass sie nicht merkt, wie die LeserInnen aus diesem Strudel herausgeschleudert werden und sie mit sich allein bleibt, als hätte das Leuchtfeuer ihres eigenen Settings sie für Momente erblinden lassen.

Das ist bei dem Licht, das es ausstrahlt, kein Wunder, katapultiert mich aber leider in DEN Schatten, in den meine eigene Welt zurückgetreten war. Dort im Dunkeln fällt für kurze Zeit wieder auseinander, was die Autorin zuvor so kunstvoll ineinander verwoben hatte: Die Literatur und das Leben. Die Ich-Erzählerin und ich verlieren uns aus dem Blick, doch vielleicht, nein, ganz sicher, kamen mir diese Momente dunkler vor als dunkel, weil der Roman bis dahin so genial geleuchtet hatte.

 

Delphine de Vigan. Nach einer wahren Geschichte
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
DuMont Buchverlag
ISBN 978-3-8321-6425-6

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