Ausgeliefert

Da ist es, das Buch, das ich innerhalb kürzester Zeit zweimal gelesen habe, weil es mich so fasziniert hat. Wie der namenlose Erzähler bin ich vor Hunger fast wahnsinnig geworden, habe verzweifelt versucht, Artikel zu schreiben, um etwas Geld zu verdienen, konnte meine Gedanken nicht fassen, weil ich nichts gegessen hatte, bin ihnen wie irre hinterhergerannt, habe alle Möglichkeiten ersonnen, wie ich zu ein paar Öre komme, wie ich meiner misslichen Lage entkommen kann. Was habe ich nicht alles versucht?

Sogar die Knöpfe meiner Jacke wollt ich versetzen, Die Knöpfe. Stellt euch das mal vor. Wie irrsinnig. Und meine Würde, ach, meine Würde, die war mir das größte Problem, Wie sie bewahren, wenn es in allen Gliedern zerrt und reißt, der Kopf zu explodieren droht und in der Stadt, dieser Stadt, durch deren Gassen ich irre, die Menschen ihren Geschäften nachgehen und mich nicht sehen, mich einfach nicht sehen.

Menschsein

Hamsun schafft es, mir die widersinnigsten Verhaltensweisen seines hungernden Erzählers so nahe zu bringen, dass ich nicht frage, warum, sondern ihm glaube, einfach glaube und folge in die hintersten Winkel der Stadt und seines Bewusstseins.

Fast 130 Jahre alt und modern. Sehr modern. Ein Klassiker. Ein Klassiker? Was ist das eigentlich. Wenn er nach mehrmaligem Lesen immer noch neue Sichtweisen offenbart? Wenn er Wahrheiten bereithält, die immer aktuell sind? Wenn er mich mit Worten eine Welt erfahren lässt, die mich verändert? Wenn er mir Bilder zeigt, die sich in meine Netzhaut einbrennen? Wenn es um Leben und Tod geht, um Liebe, um das Menschsein? Was ist von Kanons zu halten, die uns sagen wollen, was man gelesen haben muss? Ein Leseerlebnis der unvergesslichen Art.

Knut Hamsun, Hunger
Übersetzt von Siegfried Weibel
Ullstein Taschenbuchverlag
ISBN 3548291090