Nasenbluten und schlechte Zähne
In diesem Buch kann man es sich nicht bequem machen. Obwohl auf den ersten Blick alles für eines dieser wohligen Leseerlebnisse spricht, in die man so gerne schlüpft, wenn man wahlweise auf den Arm genommen werden oder warmen Vanillepudding essen möchte. Ländliche Gegend, Kinder, bunte Blumen, Besuch vom Großvater, eine Küche, in der gebacken und gebrutzelt wird. Es könnte alles so schön sein.
Und? Ja. Könnte.
Jean Stafford stellt das Interieur perfekt zusammen, bringt uns in Stimmung und lässt uns dann am ausgestreckten Arm so gekonnt verhungern, dass es fast körperlich schmerzt. Ralph und Molly, die jüngsten Kinder von Rose Fawcett, zehn und acht Jahre alt, sind die meiste Zeit vergiftet, weil sie an einer Drüsenstörung leiden, die ihnen fortlaufend Nasenbluten beschert. Damit geht es schon los. Aber nicht genug. Sie haben schlechte Zähne, sind kurzsichtig, zu Hause rebellisch und draußen verschüchtert, verachten Leah und Rachel, ihre großen Schwestern, die sich nahtlos in die Wünsche ihrer auf hohen Schuhen daher stöckelnden Mutter einpassen und richten ihre Sehnsüchte auf den Großvater, der schmuddelig, zerknittert und ungehobelt einmal im Jahr zu Besuch kommt. Auf seine Ranch würden sie für ihr Leben gern ziehen. Freiheit, Abenteuer, weiter Himmel. Das wär’ was.
Keine Nähe
Doch der Großvater spielt nicht mit. Er stirbt. Zurück bleibt sein Sohn Claude, der mit den Kindern nicht viel anfangen kann. Na, wenigstens haben Ralph und Molly einander, könnte man denken. Aber nichts da. Molly schreibt Gedichte, schreibt und liest überhaupt viel, sondert sich ab, stößt Ralph von sich, wenn er nicht will wie sie. Ralph, eher grüblerisch, ringt mit sich und seiner Schwester, fragt und hinterfragt und sucht über die Jagd Zugang zu den Männern. Das endet tragisch. Wie sollte es auch anders?
Jean Stafford hält uns die schöne heile Welt hin und zieht sie im entscheidenden Augenblick weg. Sie macht den Schmerz über das versagt Erlebnis von menschlicher Nähe für uns Leser erfahrbar und indem sie es tut, zeigt sie uns, wo wir suchen müssen. Ziemlich ungemütlich, aber sehr genial. Eine Leseerfahrung, die ihresgleichen sucht.
Jean Stafford, Die Berglöwin
Übersetzt von Adelheid und Jürgen Dormagen
Dörlemann Verlag
ISBN 978-3-03820-072-7
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