Aufrecht und mit Brille
Aufrecht sitzen wäre nicht schlecht. Schon aus Respekt. Und eine Brille. Ich glaube, ausnahmslos jeder braucht eine Brille für dieses Buch. Ach ja, und einen Bleistift natürlich, einen gespitzten. Es gibt da so einiges anzustreichen für später. Und keinen Alkohol im Blut, bitte, keinen Alkohol und auch nichts anderes, das die Wahrnehmung eintrüben könnte.
Ihr wisst schon, sonst wird es schwierig mit der Lektüre, denn sie erfordert Konzentration und die Bereitschaft, ans Eingemachte zu gehen, an das, was nicht oben aufliegt, sondern freigekratzt werden muss von den dicken Alltagsschichten, die sich in den Jahren gebildet haben.
Didier Eribon ist Soziologe und nimmt uns nach dem Tod seines Vaters mit zu seiner Mutter an den Ort seiner Jugend. eindrücklich beschreibt er, wie sich Unterschiede sozialer Klassen durch die Schule, das direkte Umfeld, Familie immer wieder reproduzieren.
Das Arbeiterkind Eribon, der homosexuelle Eribon geht nach Paris, studiert, emanzipiert und etabliert sich und trägt doch die Spuren der verletzenden Homophobie seines Herkunftsmilieus tief in sich. Welche Kraft das erfordert, welche Kämpfe damit verbunden sind, welche Scham damit einhergeht, welche Zerrissenheit auf den sozialen Aufstieg folgt, davon erzählt Eribon autobiografisch, das analysiert er soziologisch. Es entsteht ein feines Porträt des sozialen und vor allem des intellektuellen Lebens seit den 50er Jahren.
Warum wählen Arbeiter erst kommunistisch und dann unvermittelt den Front National? Wie schreibt sich eine soziale Ordnung in die Psyche der Menschen ein? Eribon sucht Antworten auf diese Fragen. Es braucht Geduld und Muße ihm zu folgen, doch der Text liest sich atemlos, er trifft ins Mark und hat das Zeug, Leben zu verändern. Ganz großer Kniefall und dann ein Glas klares Wasser, um die Sinne abzukühlen und sich noch aufrechter zu machen. Denn darum, so scheint es mir, geht es Eribon in erster Linie: Die Menschen aufzurichten wider ihre soziale Bestimmtheit. Das ist sehr bewegend und überzeugt auf ganzer Linie.
Didier Eribon, Rückkehr nach Reims
Übersetzt von Tobias Haberkorn
Suhrkamp
ISBN 978-3-518-07252-3
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