Bildhauer ohne Mutter

Wie Schnellzüge auf einer eingleisigen Strecke fahren die beiden Geschichten dieses Romans aufeinander zu. Werden sie kollidieren? Wird im letzten Moment eine Weiche umgestellt? Passiert ein Wunder?

Die Antwort auf diese Fragen liegt zwischen Seite 70 und Seite 88, genau an der Stelle, wo sich im Buch ein grau-weiß gestreiftes Blatt Papier befindet und die beiden Geschichten über ein Mutter-Sohn-Verhältnis kopfüber aufeinander stoßen. Das ist abgründig. Man muss sich entscheiden. Mit wessen Perspektive beginnt man die Lektüre? Von vorne oder von hinten? Doch was ist vorne und was hinten?

Auf der einen Seite ist Lena, die sich krümmt unter der Last der Verantwortung für ihr neugeborenes Baby, in der ein Gefühl der Schwere implodiert, das sie krank macht, die an Robert keinen Halt findet, die flieht, ihren Sohn Konrad zurücklässt und sich verkriecht wie ein Tier.

Auf der anderen Seite steht Konrad, der nicht weiß wohin mit seiner großen Wut, seiner Kraft, seinem Unglück, der in einem Internat landet, wo er Kaspar, seine Liebe, trifft und im Holz ein Material und in der Kettensäge ein Werkzeug, das ihm entspricht. So sehr, dass er schließlich sagt, er sei nicht Roberts Sohn, nicht Kaspars Freund, nicht das Kind ohne Mutter, er sei Bildhauer.

Dass Lena Jahre zuvor in dem Haus, in das sie sich wenige Wochen nach seiner Geburt flüchtete, schon auf seine Kunstwerke stößt, verwirrt erst, enthebt dann aber kurze Momente lang die Geschichten ihres realen Bodens und lässt die Frage aufblitzen, ob nicht gerade die tiefe Unvereinbarkeit der Bedürfnisse und Wünsche von Menschen einen Raum öffnet für die Kunst.

Vielleicht macht doch der Schmerz über das Unveränderbare sie erst möglich und löst sich dann in ihr auf? Der Gedanke leuchtet kurz auf, ist aber auch so schnell wieder weg wie die beiden Schnellzüge dann doch auf wundersame Weise aneinander vorbei rasen. Das ist ziemlich klug und sehr lesenswert, auch wenn die Figur des Robert manchmal etwas sperrig dazwischen grätscht, Schnellzüge anhalten kann er nicht.

 

Maren Wurster. Eine beiläufige Entscheidung
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-27380-1

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