Dem Leben zu Füßen

Guido Maria Kretschmer würde dieses Buch nie lesen. Er mag keine Füsse, mehr noch, er ekelt sich im Grunde ein bisschen vor ihnen. Und zugegeben, die von Herrn Hübner und ja, auch die von Tochter Noll sind nicht sonderlich appetitlich. Lange Nägel, dicke Hornhaut und der ganze fiese Rest auch.

Schade nur, dass Guido so leider auch nie Herrn Paulke kennenlernt.

Herrn Paulke, der sich nicht wichtig nimmt und seinen Krankheiten mit flockigen Sprüchen trotzt, und Tine Blumeier, die im Rollstuhl sitzt und vor Lebensfreude nur so sprüht. Und Gerlinde Bonkat, an der eine Nonne ohne Kloster vorbeigegangen ist, weil sie durch alle Zeitenwenden hindurch ohne jede Anerkennung unbeirrt auf die Menschen in ihrem Umfeld geschaut hat. Und Tiffy nicht, die Chefin des Kosmetikstudios, und Flocke, die ihr halbe widerborstiges Leben hinterm Tresen einer Kneipe verbracht hat, und vor allem und in erster Linie aber Katja Oskamp nicht, die Schriftstellerin, Fußpflegerin, Ich-Erzählerin und Menschenfreundin, die jeden Tag vierzehn Stationen mit der Bahn fährt, sich ihnen allen zu Füßen setzt und dann erzählt. so ohne Hochmut und Vorurteil, so voller Neugierde und Zugewandtheit, so augenzwinkernd und gewissenhaft, so ganz und gar von Mensch zu Mensch, dass es einem die Sprache verschlägt, und man Hände halten, über Köpfe streichen und ja, Füße pflegen möchte, weil es einfach jeder irgendwie verdient hat.

Die großen Dinge des Lebens werden eben auf den kleinen Bühnen entschieden. Und nein: Dies ist kein sozialromantischer Kitsch. Das ist es ja gerade. Dieses Büchlein ist so vollkommen geradeaus, man möchte es allen Viel-, Gelegenheits- und Nichtlesern ans Herz legen, aufdrängen, heimlich in die Tasche stecken, vorlesen, wenn gar nichts hilft. Alle werden es mögen. Und Guido? Tja, Guido hätte seine helle Freude, und das mit den Füßen? Meine Güte, wir sind doch alle erwachsene Menschen oder etwa nicht?

Katja Oskamp, Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin
Hanser Berlin
ISBN: 3446264140