Der Himmel kommt näher

Wenn ihr einen Moment lang nicht wisst, ob ihr ein Buch lest oder auf einer Schaukel sitzt und grad einen ordentlichen Schubs bekommt, dann befindet ihr euch auf den ersten Seiten von „Elsies Lebenslust“.

Füsse in die Höhe. Wind um die Ohren. Verrutschende Eingeweide. Und der Himmel kommt näher. Viel näher. So nah, wie man nie gedacht hätte, dass er einem durch eine bloße Ansammlung von Buchstaben kommen könnte. Wie eine Feder so leicht hüpft Elsie in der Eingangsszene durch die Straßen von New York. Hier ein kurzer Blick, dort eine flüchtige Begegnung.

Und dann? Auftritt Ralph Linderman mit seinem Hund God. Ein Mann in den Fünfzigern, tief zermürbt vom Verfall jeglicher Moral, den er hinter jeder Laterne vermutet, aber egal, an dem Punkt seid ihr eh schon machtlos gegen diesen ganz speziellen Patricia Highsmith-Sound und quasi verdammt dazu, Linderman zu folgen, dem Künstler Jack und seiner Frau Natalie zu begegnen, sich mit ihnen und einigen anderen von Elsie becircen zu lassen, ihnen beim Leben und ihren Begegnungen zuzuschauen.

Eine Weile schaukelt ihr gleichmäßig vor euch hin, wundert euch aber zunehmend, dass ihr nicht mehr an Fahrt aufnehmt, werdet wachsamer und das Gefühl nicht los, dass Patricia Highsmith euch hinhält. Sie weckt eure Sehnsucht nach mehr, füttert sie mit Prisen kleiner Absonderlichkeiten, Verzögerungen hier und da. Gleich. Gleich passiert es. Glück oder Unglück? Das spielt bald keine Rolle mehr. Ein Schritt noch. Ein winziger nur. Und dann? Ja. Es passiert.

Doch löst sich die Anspannung? Nein. Im Gegenteil. Ihr bekommt noch einen Schubs, wollt höher, noch höher, bis zu diesem atemlosen kleinen Moment auf der Schaukel, wo nur noch Himmel zu sehen ist und ihr vielleicht fliegen könntet, wenn? Ja, wenn ihr springen würdet. Es ist nur ein klitzekleiner Augenblick. Patricia Highsmith hat ihn für euch verewigt, euch nach allen Regeln der Kunst, der höchsten, mit „Elsies Lebenslust“ den Boden bereitet.

Weiter an die Grenze zum Leben kann man mit Worten nicht kommen. An ihr soll es also nicht liegen. Und wenn euch all das aber jetzt zu viel ist und zu hoch und überhaupt, dann lest nur die Eingangsszene. Bitte lest die Eingangsszene. Sie verleiht Flügel.

Patricia Highsmith. Elsies Lebenslust
Übersetzt von Dirk van Gunsteren
Diogenes Taschenbuch
ISBN 978-3-257-24571-4

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