Ein Zimmer allein reicht nicht

Wer genau schreibt eigentlich wann genau Romane? Wie entfaltet sich Kreativität? Welche Voraussetzungen braucht es dafür? Wie viele leere Stunden? Volle Kühlschränke? Freie Köpfe? Gefüllte Bankkonten? Stille? Ungestörtsein? Am besten tagelang? Ohne das alles? Schwierig, sehr schwierig bis unmöglich.

Zwischen Supermarktkasse, Wickeltisch und Pflegebett treten keine wohlklingenden Sätze ans Licht der Öffentlichkeit. Tickende Uhren jagen alle aufkommenden Worte zum Teufel. In den Autos der Paketlieferdienste ist kein Platz für Notizbücher, in denen Erfahrungen festgehalten werden könnten. Und: Wie viele haben gar nicht erst das Selbstbewusstsein, um ihre Sicht der Dinge für relevant zu halten? Und warum eigentlich?

Um all diese Fragen und die zahlreichen, aus Gründen des Geschlechts, der Herkunft und der sozialen Schicht, unterdrückten Stimmen in der Literatur geht es Tillie Olsen in ihren Essays, die 1978 erstmals erschienen und heute so erschreckend gegenwärtig sind, dass man gleich losrennen und alles umkrempeln will. Welche Welt spiegelt sich da in all den Büchern, die Literaturkanons anführen und Bibliotheken füllen?

Aus eigener Erfahrung weiß Tillie Olsen um die alltäglichen Hemmnisse, die sich der kreativen Arbeit in den Weg stellen, wenn man nicht Thomas Mann oder Joseph Conrad ist, denen alle praktischen Belange aus dem Weg geräumt wurden, sondern eine Familie hat, einer Erwerbsarbeit nachgeht und seit Generationen darauf gepolt ist, die Wünsche der anderen über die eigenen zu stellen oder gar nicht erst wichtig zu nehmen.

Kein gutes Umfeld für kreative Geistesblitze. Schöpferische Energien sind ein begrenztes Gut. Warum wohl schrieb Alice Munro Kurzgeschichten? Aus dem gleichen Grund, aus dem Jacinda Ardern, die neuseeländische Ministerpräsidentin, heute ihren Rücktritt erklärt hat. Banal? Leider ja.

Tillie Olsen, die ein sehr kleines, aber umso nachhaltigeres Werk hinterlassen hat, sammelt viele kluge Gedanken über den Zwang zur Selbstzensur, Schranken auf dem Weg zur eigenen Stimme und nicht zuletzt zur „Mutterschaft (..:) die am wenigsten verstandene, die in quälendster Weise komplexe Erfahrung, der man eine Wahrheit entreißen könnte.“

 

Tillie Olsen. Was fehlt
Übersetzt von Nina Frey und Hans-Christian Oeser
Aufbau Verlag
ISBN 978-3-351-03983-7

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert