Keine Liebesgeschichte. Punkt
Nein. Es ist keine Liebesgeschichte. Da ist Marguerite Duras deutlich. Sehr deutlich.
Sie lässt den Roman leichthin und mit große Nonchalance in Fragmenten irrlichtern, flattern, vibrieren und changieren, springt hin- und her zwischen Stationen ihres früheren Lebens, der Mutter, den Brüdern, Freundinnen, den 30er Jahren in Indochina und dem zweiten Weltkrieg. Doch eine Liebesgeschichte schreibt sie nicht.
Eine Verfilmung von Jean-Jacques Annaud, die ihren Roman auf die Erotik reduzierte und nur die durch den Titel geweckten Erwartungen bediente, lehnte Duras vehement ab.
Der Rahmen ihres Romans ist die Geschichte eines fünfzehnjährigen Mädchens aus prekären Verhältnissen, das eine Beziehung eingeht zu einem fast doppelt so alten Mann, einem wohlhabenden Chinesen. Als das Kind in dessen Limousine steigt, ist plötzlich eine kaum spürbare Angst da, das Licht auf dem Fluss wird trüb. Das Mädchen sagt: „Alles, was man von mir wünscht, kann ich werden.“
Duras schildert die sexuellen Begegnungen in einem halbdunklen Raum. Der Chinese liebt bis zur Selbstvergessenheit, das Mädchen gekleidet wie eine Kind-Prostituierte bleibt passiv,, glaubt einer Verpflichtung nachzugehen, tut, was von ihm erwartet wird, sieht sein Geld, spricht von seiner Verderbtheit.
Will das Mädchen die Familie aus der Armut befreien? Sich aus den Fängen der Mutter lösen? Ist das der Beginn einer Liebesgeschichte? Marcel Reich-Ranicki sah sich durch das Buch verführt und schloss daraus, dass Duras sagen wollte: „Die Liebe, sie ist doch kein leerer Wahn.“ Eine „souverän geschriebene lovestory“ war es für Joachim Kaiser.
In welcher Figur der Geschichte die drei Männer sich wohl gespiegelt haben? In dem fünfzehnjährigen Mädchen? Wohl eher nicht. Dem Chinesen? Naheliegend. Oder? Ist es deshalb eine Liebesgeschichte? Nein. Es ist eben nicht egal, wer mit welcher Ambition und welchem Lebenshintergrund Romane rezensiert und Blickrichtungen lenkt.
„There is always the other side, always.“, wie Jean Rhys so schön gesagt hat. Doch dann gibt es überdies blinde Flecken, Grenzen der Bereitschaft sich in fremde Erlebniswelten einzufühlen. Ob das wohl etwas mit patriarchalen Strukturen zu tun hat? Was meint ihr?
Marguerite Duras. Der Liebhaber
Aus dem Französischen von Ilma Rakusa
Suhrkamp Verlag
ISBN 3-518-38129-6
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