Kleines Leseglück

Was für ein kleines Glück heute morgen. Dieses verblichene Buch einer fast vergessenen Autorin mit schmalem Werk. 1984 gekauft von Anne Schneppen. Ungelesen. Nicht einmal richtig aufgeblättert, so vollkommen wie die Seiten noch aneinander sind.

Ach, liebe unbekannte Anne, warum hast du denn dieses Buch nie gelesen?

Hättest du doch, dann hättest du auch dieses Leseglück gehabt gleich mit der ersten Geschichte: „Ich stehe hier und bügle“. Schon dieser Titel. Mal ehrlich, der zieht einem doch die Schuhe aus oder? Und was dann kommt: Eine Mutter, die über ihre älteste Tochter nachdenkt, weil sie zu einem Gespräch in die Schule gebeten wurde.

Helft!!!!

Sie erinnert sich an ihre Versäumnisse als Mutter, die finanziellen Zwänge, die vielen Unbedachtheiten, deren Folgen immer zu spät erkannt werden, das Genesungsheim, in dem die Tochter so dünn wurde, die vier anderen Kinder, die dann noch kamen und Aufmerksamkeit abzogen, die Müdigkeit, die Zeit, die nie still hielt für den genauen Blick, das große Vertrauen trotz allem, und dann ganz zum Schluss dieser Appell: „Lasst sie in Ruhe. So wird nicht alles, was in ihr steckt, zum Blühen kommen – aber bei wie vielen tut es das? Es ist immer noch genug übrig, um davon zu leben. Nur helft ihr zu dem Wissen – helft, macht, dass sie Grund hat zu dem Wissen – helft, macht, dass sie Grund hat zu dem Wissen – dass sie mehr ist als dieses Kleid auf dem Bügelbrett, wehrlos unter Eisen.“

Mir hat dieser feingliedrige, zweifelnd mäandernde Text Tränen in die Augen getrieben, nicht weil er so traurig war, sondern so gut. Leider, leider ist dieser von Sibylle Koch-Grünberg so wunderbar übersetzte Erzählungsband, der 1961 entstanden ist, nur noch antiquarisch erhältlich und das auch nur mit Glück. Schade oder? Tillie Olsen war eine so interessante Frau: Schriftstellerin, Feministin, Kämpferin.

Tillie Olsen, Erzähl mir ein Rätsel
Übersetzt von Sibylle Koch-Grünberg
Sammlung Luchterhand
ISBN 3-472-61285-1