Literarischer Hörtest
Na, wie viele Schubladen gehen in wie vielen Köpfen bei diesem Titel wohl auf? Was meint ihr?
Die erste Fraktion denkt: Pah, Frauenliteratur. Nix für mich. Die zweite verdreht die Augen: Mode? Oberflächlich. Weg damit. Die dritte guckt gar nicht richtig hin: Autorinnen und die Banalitäten des Alltags. War ja klar. Die vierte schaltet schon bei dem Wort Erzählungen ab: Mag ich nicht, will ich nicht, les ich nicht. Und so weiter und so weiter. Alle auf dem Holzweg, wenn ihr mich fragt.
Nichts, aber wirklich nichts ist derart gut geeignet für einen, nennen wir es, literarischen Hörtest, wie ein Band mit Erzählungen zu einem bestimmten Thema. Wenn ihr Virginia Woolf und gleich danach Marieluise Fleißer lest, dann Alice Munro und Katherine Mansfield gefolgt von Marie T. Martin, Margret Atwood und Gerlind Reinshagen, und alle Texte kreisen überdies um ein Kleid, ich sage euch, dann wisst ihr am Ende, was die Stimme jeder einzelnen Autorin so besonders macht und wo eure Vorlieben liegen und warum. Und mehr noch: ihr spürt geschichtliche Unterschiede und soziale Nuancen auf, hört psychologische Untertöne und hysterische Überdrehungen.
Kurzum: ihr erfahrt im Handumdrehen wie unterschiedlich die Erzählerinnen mit Worten in und zu der Welt stehen. Und Kleider? Was erzählt eigentlich ohne Worte so viel über einen Menschen wie Mode? Ist doch nicht egal, ob einer sich anzieht wie Christian Lindner oder wie Robert Habeck. Herrgott nochmal! Und Schubladen? Die müssen schon hin und wieder auch mal gründlich aufgeräumt werden. Also wirklich.
Die Kleider meines Lebens. Erzählungen von Margaret Atwood bis Virginia Woolf
Hrsg. von Annette Hülsenbeck
ebersbach & simon
ISBN 978-3-86915-149-6
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