Lösungsmittelfrei

Katja Schönherr lässt die alte Inge von der Treppe fallen, um ihren Sohn und ihre Enkelin auf den Plan zu rufen. Ging nicht anders. Wirklich.

Diagnose? Oberschenkelhalsbruch. Was folgt? Krankenhaus, Operation, Pflegebedarf. Keiner will das. Klar. Aber irgendwie auch der Klassiker: Irgendwann musste es ja so weit kommen! Ergebnis? Inge grummelt und stänkert, Carsten windet und duckt sich, Lissa weiß alles besser. So weit, so banal. Die Fronten sind schnell geklärt. Das Problem auch. Eine Lösung gibt’s nicht, muss aber trotzdem her, so ist das eben, da steht Leben gegen Leben. Was also tun?

Katja Schönherr nimmt weder ein Blatt vor den Mund, noch hegt sie irgendwelche Sympathien oder beschönigt das Elend. Nein. Sie lässt in erfrischend klarer Manier die Fronten wie in einem reinigenden Gewitter aufeinanderprallen, im Donner entladen sich die Aggressionen und die Blitze erhellen die Innenwelten. Jede bekommt ihre Chance und ihr Fett weg. Carsten auch. Ist ja nicht so, dass alle blöd und blind sind, im Gegenteil, obwohl, na ja, Inge hinkt manchmal ein bisschen hinterher, aber nur ein bisschen, sie ist ja nicht mehr die Jüngste.

Katja Schönherr sitzt ihren Figuren im Nacken, lässt ihnen nichts durchgehen, keine Lüge, kein Selbstmitleid, keine Scheinheiligkeit, die sie den LeserInnen vorenthält. Nein, sie setzt die Blickwinkel der drei Generationen so erbarmungslos unter Spannung, dass sie ins Vibrieren geraten und sich zwischen ihnen ein Raum öffnet, in dem das Unsagbare sich entfalten kann, zueinander kommt, was unvereinbar ist, Lösungen auftauchen, die gleich wieder verschwinden – aber immerhin. Ein schwankender Raum ist das, mit den Händen nicht zu greifen, mal ist er klein, dann wieder größer, erst dunkel, dann hell.

Ohne den Schlagabtausch, die Begegnung der drei Personen, das Ringen um eine Lösung ist er nicht zu haben, dieser Raum, in dem das Literarische als Lebensform erscheint und nicht nur Trost spendet, sondern auch einen Weg weist, auf dem Leben nicht gegen Leben steht, sondern das eine neben dem anderen sich bewegt. Dass Inge für diese Erkenntnis die Treppe hinunterstürzen musste? Sorry, aber das seht ihr ein oder? Ein großer Dank an Katja Schönherr, dass sie diesen Job übernommen hat. Hut ab.

 

Katja Schönherr. Alles ist noch zu wenig
Arche Literatur Verlag AG
ISBN 9783716028018

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