Reinigendes Gewitter
Sie hat blaue Augen, einen leicht verschleierten Blick, kleine Nase, blonde Ponyfrisur, nichts Besonderes. Ihre Sprache könnte ich nicht identifizieren. Ich kenne sie nicht.
Sie ist mir absolut fremd, und doch schreibt sie, als würde sie in den Winkeln meines Gehirns herumspazieren und die Luft atmen, die ich atme. Sie gießt meine gefühlten Gedanken so in Bilder von Menschen, Orten und Begebenheiten, dass ich mich in ihren Sätzen mehr zu Hause fühle als zu Hause. Ihr wisst schon, in der Art, da man jubeln oder ein paar kleine Tränen vergießen möchte.
Dabei bin ich weder Ärztin wie die Protagonistin, kenne mich mit den unappetitlichen Seiten dieses Berufes nicht aus, habe keine Trennung erlebt wegen einer Liaison mit einem Jugendfreund und ein gutsituiertes Leben in einer Reihenhaussiedlung in Stücke zerschlagen. Ob ich einen so bissigen wie scharfsichtigen Blick auf das Leben habe? Keine Ahnung. Jedenfalls ist meine Mutter nicht dement und hat mich auch nicht mit 14 allein in einer Stadt zurückgelassen. Ich trinke statt Chablis viel lieber Rotwein und tausche mich selten bis nie mit einem Skelett aus Kunststoff aus.
Ich teile keine dieser Erfahrungen und doch klärt Nina Lykkes Roman wie ein reinigendes Gewitter meine Sicht auf die Welt. So sehr, dass ich jetzt eigentlich nie mehr ein Buch lesen muss, weil: Was soll da noch kommen? Es ist ja nun alles gesagt! Endlich. Thema Literatur? Perfekt gelöst. Erledigt. Oder?
Ach, es ist ja wie verhext. So gute Bücher machen leider süchtig. Süchtig nach mehr, mehr Fremden, die meine Wortlosigkeit in Bilder kleiden, mir zeigen, was in mir schlummert, mich mitnehmen zu mir selbst. Das klingt absurd? Das ist absurd. Aber genau das ist es doch oder? Ein literarisches Erlebnis par excellence und Leseglück. Oh ja, ein großes, großes Leseglück. Und da Nina Lykke wahrscheinlich wieder etwas Zeit braucht für einen neuen Roman, suche ich jetzt wieder weiter nach DEM Buch … Das hört nie auf oder?
Nina Lykke. Alles wird gut
Aus dem Norwegischen von Sylvia Kall und Ina Kronenberger
btb Verlag
ISBN 978-3-442-75934-7
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